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Das unbewältigte Verbrechen. Heinz Reinefarth und der Warschauer Aufstand

Dr. Philipp Marti, Autor des Buches „Der Fall Reinefarth", im Gespräch mit Filip Gańczak und Maciej Foks

Mahnmal zur Erinnerung an die ca. 12.000 Einwohner des Stadtteils Wola sowie Patienten, Ärzte, Medizinstudierende und Mitarbeiter des Wolski-Krankenhauses in der Płocka-Straße, die im Zeitraum vom 5. bis zum 12. August 1944, bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes, in und um der Górczewska-Straße von den Deutschen ermordet wurden. (Foto: Maciej Foks)

Die Geschichte von Heinz Reinefarth beginnt lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Er war seit 1932 Mitglied der NSDAP und der SS, aber seine Karriere war zu dieser Zeit nicht ganz typisch im Vergleich zu anderen Leuten, die später höhere Positionen im Hitler-Staat erreichen konnten. In den 30er Jahren wollte Reinefarth noch nicht alle Brücken hinter sich abbrechen.

Ja. Seit den 20er Jahren wurde er dem Kreis der sog. völkischen Nationalisten zugeordnet und war schon vor der Machtergreifung durch Hitler ein überzeugter Nationalsozialist. Er gehörte zu den Vorkämpfern der nationalsozialistischen Bewegung in der Region Cottbus, wo er beruflich tätig war. Er brach jedoch die Brücken zu seinem bürgerlichen Leben nicht ab. Das hatte mit seiner beruflichen Beschäftigung viel zu tun: Er war Rechtsanwalt und verdiente sehr gut. Zwar wurde er von seinen Bekannten in der SS, die ihn pushen wollten – vor allem von Kurt Daluege, dem Chef der Ordnungspolizei – immer wieder angefragt, aber für ihn, soweit aus den Quellen erschließbar ist, war die Veranlassung nicht groß genug, vollamtlich in den SS- und Polizeiapparat zu wechseln. Über die Gründe kann man nur mutmaßen. Es ist aber naheliegend, dass die Vorteile seines wohlhabenden bürgerlichen Lebens überwogen. Trotzdem konnte er sich für die nationalsozialistische Sache einsetzen.

In dem Buch von Michael Wildt „Generation des Unbedingten“ spricht der Autor von einer Gruppe von Menschen, die, ähnlich wie Reinefarth, um 1900 geboren wurden, aus der Mitte der Gesellschaft stammten, gut ausgebildet waren (die meisten Geisteswissenschaftler oder Juristen) und in der Zeit der Wirtschaftskrise, d.h. mit ungefähr 30 Jahren, eine Karrieremöglichkeit in der SS sahen. Reinefarth würde eigentlich diesem Idealtypus entsprechen. Seine Karriere ist aber wirklich eine Kriegskarriere. Ohne den Kriegsausbruch würde es diese Karriere vermutlich nicht geben. Heinz Reinefarth zog als normaler Soldat der Wehrmacht in den Krieg. Er war zwar Hauptsturmführer in der SS – das würde in der regulären Armee dem Grad eines Hauptmanns entsprechen – aber in der Wehrmacht war er zu Beginn des Krieges ein Schütze der Reserve.

1939 nahm er am Polenfeldzug teil. Lässt sich hierzu etwas Näheres sagen?

Dieser Zeitraum ist eher im Schatten anderer Ereignisse. Ende 1939 bzw. Anfang 1940 war Reinefarth zunächst in der Unteroffiziersschule und bald danach in der Offiziersschule. Im Frühjahr 1940 kämpfte er in Frankreich und erlangte für seine Verdienste an der Front das Ritterkreuz. Das war damals sehr aufsehenerregend, weil er einer der allerersten Soldaten war, die nicht Offizier waren und trotzdem das Ritterkreuz erlangt hatten. Das gab ihm noch einmal innerhalb der SS Auftrieb in seiner Karriere. Offiziell aber blieb er bis 1942 bei der Wehrmacht und machte seine Anwaltspraxis, in seiner Abwesenheit von Stellvertretern geführt. Er gab die Praxis erst auf, als er 1942 definitiv zur Ordnungspolizei übertrat. Es ist übrigens auch interessant: Er wurde nicht bei der Sicherheitspolizei, also nicht bei Reinhard Heydrich, sondern bei Kurt Daluege bei der Ordnungspolizei angestellt.

Reinefarth kam im Protektorat Böhmen und Mähren zum Einsatz. Später wurde er zum Höheren SS- und Polizeiführer im sog. Wartheland in Posen ernannt. Zu dieser Zeit wurden bereits, auch dort, die Juden ermordet. Es kam auch unter anderem zu Zwangsdeportationen von Polen. Inwieweit ist Reinefarth für diese Verbrechen verantwortlich?

Seine persönliche Verantwortung ist sicherlich nicht kleinzureden. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass – und damit will ich ihn keineswegs in Schutz nehmen – es damals Reinafarth nicht brauchte, um die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im Wartheland durchzuführen. Das ist seltsam, weil er formal der höchste Polizist im Reichsgau Wartheland war. Tatsächlich aber war die Germanisierungs- und Vernichtungspolitik bereits angelaufen. Reinefarth war sicher über alles gut informiert. Er war auch bemüht, bei dieser Vernichtungspolitik eine gewisse Rolle zu spielen, aber nach dem, was man heute weiß, war er nicht die entscheidende Figur. Er kam ein bisschen zu spät. Entscheidend waren der Gauleiter Arthur Greiser und andere Persönlichkeiten von der SS, die bereits länger dort waren.

Am 1. August 1944 brach der Warschauer Aufstand aus. Auf welchem Weg kam Reinefarth nach Warschau? Worin liegt seine persönliche Verantwortung für die damaligen Verbrechen?

Die Berufung von Heinz Reinefarth geschah durch SS-Chef Heinrich Himmler. Wieso ausgerechnet Reinafarth berufen wurde, ist aus den Quellen nicht erschließbar. Möglicherweise kam es dazu deswegen, weil Reinefarth einen guten Ruf als Frontsoldat hatte. Auf der anderen Seite war der Anspruch an militärische Professionalität 1944 ein anderer als 1940. Man muss vor Augen haben, Heinz Reinefarth hatte keine andere militärische Erfahrung als die eines Leutnants der Wehrmacht und keinerlei militärische Stabserfahrung. Aber in dieser Zeit spielte im Dritten Reich der Faktor ideologische Festigkeit eine große Rolle, zusammen mit einer wahrgenommenen Tapferkeit und Draufgängertum. Ideologisch fest empfundene Persönlichkeiten wurden häufig in hohe militärische Positionen erhoben und Reinefarth ist ein gutes Beispiel dafür. Es machte alles einen sehr improvisierten Eindruck. Er sammelte Polizeieinheiten aus dem Warthegau, die zusammen mit anderen militärischen Kräften wie die Sonderformation Dirlewanger nach Warschau kamen. Zu Beginn des Aufstandes gerieten die Deutschen zunächst in die Defensive, es wurden aber relativ rasch Verstärkungen hinzugefügt. Der Auftrag für Reinefarth war klar. Es ging nicht nur um eine militärische Aktion, weil die polnische Heimatarmee ja von den Deutschen nicht als legitime Armee anerkannt wurde, sondern es war eine Strafaktion gegen einen Aufstand in einem besetzten Gebiet. Himmler wollte ein Exempel statuieren. Warschau sollte auf die gesamte Ostfront ausstrahlen. Die Lehre sollte heißen: Jeder Widerstand wird mit aller Brutalität niedergeschlagen. Man traf keine Unterscheidung mehr zwischen Menschen, die kämpfen, und Zivilisten. Daher der Befehl von Himmler an Reinefarth und an andere „Befrieder“ des Aufstands, alle nicht deutschen Einwohner umzubringen. Reinefarths Verantwortung ist die, dass er diesen Befehl am 5. und am 6. August systematisch umsetzte und weitergab. Es ist interessant, dass eine Persönlichkeit wie Erich von dem Bach-Zelewski, der ja einer der grausamsten Befehlshaber in den deutsch besetzten Gebieten war, diesen allgemeinen Erschießungsbefehl abschwächte. Er wusste, dass der Befehl in dieser Form kontraproduktiv ist, weil er die Kämpfe verlangsamt. Von dem Bach-Zelewski traf kurz nach Reinefarth in Warschau ein und übernahm die Führung der deutschen Truppen. Seit diesem Moment kam es viel seltener zu Massenerschießungen von Zivilisten.

Am 5. August 1944 sprach Reinefarth in einem Telefongespräch mit General Nikolaus von Vormann die heute so bekannten Worte: „Was soll ich mit den Zivilisten machen. Ich habe weniger Munition als Gefangene.“

Das Telefonat mit Vormann ist nur ein Beispiel, das prominent ist, weil es an die Öffentlichkeit geriet. Historisch gesehen ist für die Schuld Reinefarths der Umstand entscheidend, dass zur Zeit der Massenerschießung er die Hauptverantwortung dafür trug, was in Warschau geschah. Es gibt keine Indizien dafür, dass er auch ansatzweise versuchte, diese Massenverbrechen zu stoppen.

Wie war es möglich, dass Reinefarth die Nachkriegs-Entnazifizierung überstand und wieder beruflich aktiv wurde?

Zunächst einmal ging es für ihn ums nackte Überleben. Er war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Er hatte das Glück, dass er von den Amerikanern als militärische Führungspersönlichkeit wahrgenommen wurde und nicht als Besatzungsfunktionär. Reinefarth verkaufte sich als Ehrenmann, als militärische Führungspersönlichkeit und eben nicht als Nazi. Er war eloquent und entsprach auf den ersten Blick nicht dem Bild eines nationalsozialistischen Verbrechers. Die Amerikaner haben übrigens, ganz zu Beginn, noch nicht alles gewusst. Reinefarths letztes Kommando war die Verteidigung der Festungsstadt Küstrin. Das nutzte er später dazu, eine eigene Legende zu fabrizieren. Er brach mit einigen Soldaten der Besatzung aus Küstrin aus, entgegen einem Befehl von Hitler. Ursprünglich wollte er das nicht tun, wurde aber von seinen Offizieren überzeugt auszubrechen. Im Nachhinein verkaufte er sich als jemand, der einen Führerbefehl missachtete, also sehr verantwortungsvoll handelte. Er bauschte diesen angeblichen Widerstand sehr auf. Er behauptete auch, dass er gar nicht absichtlich in die SS eintrat, sondern als Polizeifunktionär automatisch in die SS kam. In Zeiten des aufkommenden Kalten Krieges war das Counter Intelligence Corps (CIC), der Geheimdienst der amerikanischen Armee, an Führungspersönlichkeiten des deutschen Reichs interessiert, die Erfahrung aus den Ostgebieten hatten. Reinefarth wurde so als Informationsperson rekrutiert und dann geschützt, als sich bald – 1946/1947 – zeigte, dass er erstens gar nicht so viele für Informationen hat, die für das CIC wertvoll wären, und zweitens immer deutlicher wurde, dass er für die Verbrechen während der Niederschlagung des Warschauer Aufstands stark verantwortlich war. Es wurde dann entschieden, dass es aus politischen Gründen zu spät sei, ihn noch an Polen auszuliefern.

Wie wurde die Entscheidung begründet, ihn an Polen nicht auszuliefern?

Mit „Sicherheitsgründen“, also mit einer sehr allgemeinen Floskel. Man war sich schon klar, dass man da mit Reinefarth ein Problem hat. Die Amerikaner versuchten jedoch, die Sache auszusitzen. Reinefarth war in Internierungslagern eingesessen. Er sagte sogar als Zeuge in Nürnberg aus. 1948 wurde er freigelassen und ließ sich auf der Insel Sylt in der britischen Besatzungszone nieder, wo die Familie seiner Frau ein Ferienhaus besaß. Ihn erwartete noch das sog. Spruchgerichtsverfahren. Es wurde damit geprüft, ob jemand aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Institution in Nazi-Deutschland sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte. Reinefarth gelang es aber, das Gericht zu überzeugen, er sei als Polizeigeneral nur durch Zwang in die SS eingetreten. Er verkaufte sich als Ausnahme unter hochrangigen SS-Funktionären, als jemand, der am Ende des Krieges in der Festung Küstrin sehr ehrenvoll handelte.

Warum war das Gericht nicht in der Lage, diese Erzählung nachzuprüfen?

Diese Spruchgerichte arbeiteten deutlich unter Zeitdruck. Sie hatten natürlich auch nicht alle Informationen, etwa polnische Akten hatten sie nicht. Es war auch so, dass die Entnazifizierung von der deutschen Gesellschaft immer weniger akzeptiert wurde. 1945/1946 war es noch anerkannt, dass die Alliierten die Gesellschaft säubern müssen. Als Reinefarth 1948 vor Gericht stand, war die Stimmung schon anders. Die britischen Besatzungsbehörden wollten möglichst schnell die Entnazifizierung beenden. Dazu muss man noch sagen, dass die Spruchgerichte von deutschen Justizbeamten geleitet wurden und die Briten nur eine Oberaufsicht hatten. Reinefarth wurde freigesprochen. Nach diesem Verfahren schloss sich die eigentliche Entnazifizierung an. Betroffene wurden in fünf Kategorien eingeteilt: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Reinefarth hatte aufgrund des Freispruchs und seiner Begründung, er habe ehrenvoll gehandelt, von vorne an gute Chancen, in eine der tieferen Kategorie eingeordnet zu werden. Die erste und die zweite wurden 1948 gar nicht mehr vergeben. Reinefarth wurde nicht einmal in die dritte Kategorie eingestuft, sondern zunächst in die vierte Kategorie – Mitläufer. Dagegen hat er Rekurs eingelegt und wurde schließlich in die fünfte – unterste – Kategorie eingereiht. Zu dieser Zeit aber wurde die Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone bereits völlig ad absurdum geführt, sodass sogar Hinrich Lohse, der Gauleiter von Schleswig-Holstein, in eine mittlere Kategorie eingestuft wurde. Diese Verfahren verloren bereits jegliche Relevanz. Aber formal wurde Reinefarth entlastet. Er durfte somit zu seiner Tätigkeit als Anwalt zurückkehren und sich auch politisch betätigen.

Er wurde zum Bürgermeister und später zum Landtagsabgeordneten gewählt. Wie konnte er damals in einem Bundesland, in dem er ja nicht aufgewachsen ist, so schnell an Popularität gewinnen?

Schleswig-Holstein war damals das Bundesland mit der größten Quote an Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches. In manchen Gemeinden waren die Flüchtlinge sogar in der Mehrheit. Auf der Insel Sylt waren ebenfalls viele Flüchtlinge. Es kam zu Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und der Ankömmlingen aus dem Osten. Reinefarth, der seit den 1920er Jahren jeden Sommer Urlaub auf Sylt gemacht hatte, war in der einheimischen Gesellschaft bekannt. Auch unter den Flüchtlingen war er anerkannt. Er war also in einer Idealposition, um zu vermitteln. Das machte er sehr geschickt. Er bemühte sich, Kontakte aufzubauen. Er beriet Flüchtlinge kostenlos juristisch. Er setzte wahnsinnig viel an Energie ein, um Anerkennung der Flüchtlinge und der Sylter Bevölkerung zu gewinnen. Es war eine Zeit, die von der großen wirtschaftlichen Not geprägt war. Damals waren sehr wenige daran interessiert, was genau während des Krieges geschehen war. Man wollte vorwärts schauen. Es galt, die Not zu bekämpfen und irgendwie mit dem Leben wieder klarzukommen. Reinefarth wurde als jemand wahrgenommen, der arbeitet und Anderen hilft – als ehemaliger Militärkommandant und nicht als Besatzungsverbrecher. Sein Ritterkreuz verschaffte ihm zusätzlich Respekt. Ja, es gab Gerüchte, dass da Irgendetwas war mit dem Warschauer Aufstand, dieser wurde aber damals als illegaler Akt des Widerstands wahrgenommen, den das deutsche Militär niederschlagen musste. Man glaubte, Reinefahrt habe nur Befehle ausgeführt.

Wan kam es in Deutschland zu einer Wende in der öffentlichen Wahrnehmung Reinefarths? War dabei der DDR-Film „Urlaub auf Sylt“ aus dem Jahre 1957 entscheidend?

Ja, sehr stark, wobei der Film in der Bundesrepublik zunächst im Prinzip als Propagandamaterial schubladisiert wurde. Nach einigen Monaten ist die Geschichte dann wieder hochgekocht, als ein deutscher Professor, der Rechtshistoriker Hans Thieme, an die Zeitschrift „Der Spiegel“, das größte Nachrichtenmagazin in Deutschland, einen Leserbrief schrieb. Er klagte Reinefarth an und bekräftigte im Prinzip die Vorwürfe, die in dem Film gemacht wurden. Das hatte dann natürlich in der Bundesrepublik ein viel stärkeres Gewicht. Dieser Professor aus Freiburg war selber als Offizier in Warschau gewesen. Er war Adjutant eines Stabsoffiziers gewesen und hatte mit eigenen Ohren gehört, wie Reinefarth sagte, er habe nicht genug Munition, um alle Gefangenen zu erschießen. Die Glaubwürdigkeit dieses Professors brachte diesen Skandal richtig ins Rollen. Trotzdem ließ sich Reinefarth, nachdem er bereits seit 7 Jahren Bürgermeister war, für den Landtag Schleswig-Holstein aufstellen. Das sorgte für große Aufregung. Obwohl er im Herbst 1958 in den Landtag gewählt wurde, war das schon der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere.

Jahrelang war in der Bundesrepublik ein juristisches Verfahren zum Fall Reinefarth im Gang. Aus heutiger Sicht ist es schwer zu verstehen, warum gar keine Anklage erhoben wurde. Schon damals gelang es ja, verschiedene NS-Funktionäre und Offiziere der SS anzuklagen und manchmal auch zu verurteilen.

In den 1960er Jahren wurde in der Bundesrepublik die Niederschlagung des Warschauer Aufstands als militärisches Ereignis bewertet. Die Bekämpfung von Partisanen war in der Wahrnehmung großer Teile der deutschen Gesellschaft, aber auch der Juristen, etwas völlig Anderes als nationalsozialistische Verbrechen, etwa in den Konzentrationslagern. Klar, es lagen auf dem Tisch konkrete Vorwürfe und Anhaltspunkte gegen Reinefarth, dass es zu Kriegsverbrechen kam. Die Juristen waren aber in ihre Strafprozessordnung sehr straff gefangen. Diese sah vor, dass man Reinefarth konkrete Verbrechen zu Schulde legen können muss. Es gibt bis heute keinen schriftlich übermittelten Erschießungsbefehl von Himmler, weder an Reinefarth noch an jemand anderen. Man war also von vornherein an Zeugenaussagen angewiesen. Diese Zeugen sagten in der überwiegenden Mehrheit, sie könnten sich nicht daran erinnern, dass Reinefarth einen Erschießungsbefehl übermittelte. Das ist auch nachvollziehbar, weil die Zeugen ja auch selbst potentielle Täter waren. Sagte jemand, er könnte sich doch an etwas erinnern, wurde ihm weniger Gewicht beigemessen. Die Verbrechen, die man Reinefarth beschuldigen musste, wurden voneinander getrennt untersucht. Das Gebiet der Aufstandsbekämpfung wurde für die Zwecke des juristischen Verfahrens in Teilgebiete unterteilt, wo Untereinheiten kämpften. Dann wurde untersucht, ob diese Untereinheiten auf konkreten Befehl von Reinefarth handelten. Der Warschauer Aufstand wurde auch in verschiedene Zeiteinheiten unterteilt. Man kann den Juristen nicht unbedingt vorwerfen, dass sie ihre Arbeit nicht gewissenhaft taten. Es sind aber Menschen, die von ihrer damaligen Zeit geprägt waren: Persönlichkeiten, die 30-, 40-, 50-jährig waren, die in den meisten Fällen auch den Krieg als Soldat, zum Teil sogar als Offizier miterlebten. Sie hießen nicht unbedingt Kriegsverbrechen gut, aber sie gingen von der damaligen Annahme aus, dass man im Krieg manchmal Befehle ausführen muss. Die Maßstäbe waren damals anders, als sie heute sind.

Äußerte sich Reinefarth zu dieser Zeit öffentlich zu seiner Tätigkeit bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands?

Nur, wenn er gezwungen wurde, darüber zu sprechen, und auch dann nur sehr allgemein. Er betonte, dass es eine Zeit gewesen sei, in der man seine Pflicht getan hätte. Zu den Details gab er nur in dem Ermittlungsverfahren Auskunft, wobei er so stark wie möglich immer sagte, er wisse es nicht mehr genau.

2011 verurteilte ein Münchner Gericht John Demjanjuk zu 5 Jahren Haft. Er wurde für mitschuldig an der Vernichtung von Juden in Sobibor erklärt. Mit der Rechtspraxis wie zu Reinefarths Zeiten wäre so ein Urteil nicht denkbar gewesen.

Wahrscheinlich. Wichtig ist auch, wie Reinefarth auf andere Menschen wirkte. In der damaligen öffentlichen Anschauung war ein Naziverbrecher jemand, der vielleicht als Mitglied der SA in der Zeit der Machtergreifung Kommunisten verprügelte, oder ein KZ-Aufseher, also zwielichtige Naturen. Ein deutscher Wissenschaftler hat mal geschrieben: Der Nazi-Verbrecher ist der KZ-Wächter, den man aus einem Prozess im Fernsehen kennt, aber sicher nicht der Studienrat, der höffliche Nachbar, der ausgebildete Jurist. Das können sich viele einfach nicht vorstellen. Man schaut sehr stark auf äußere Merkmale.

War die westdeutsche Staatsanwaltschaft in den 60er Jahren daran interessiert, auch in Polen Zeugen ausfindig zu machen?

Manche Staatsanwaltschaften machten das bei anderen Verfahren. Die Staatsanwaltschaft in Flensburg, die mit diesem Verfahren beschäftigt war, war sehr zurückhaltend. Sie wertete die polnischen Akten aus, die in der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg lagerten, ließ polnische Zeitungsberichte übersetzen und arbeitete mit dem Historiker Hanns von Krannhals zusammen, der damals in der Bundesrepublik einer der prominentesten Polenexperten war. Von Krannhals hatte Kontakte nach Polen, reiste dorthin und wertete in Warschau auch Ermittlungsakten aus. Eine direkte Zusammenarbeit der Justizbehörden zwischen der Bundesrepublik und Polen gab es aber nicht. Den polnischen Akten und polnischen Zeitungsberichten wurde außerdem in Flensburg viel weniger Gewicht beigemessen als den westdeutschen Ermittlungsakten.

Nach der Lektüre Ihres Buches kann man den Eindruck gewinnen, dass in den 60er Jahren auch die polnische Seite nicht wirklich an einer internationalen Zusammenarbeit zum Fall Reinefarth interessiert war.

Die polnische Seite ahnte damals, dass Reinefarth in der Bundesrepublik wahrscheinlich sowieso nie rechtskräftig verurteilt wird. In dieser Situation war es für Warschau günstig, dies propagandistisch auszunutzen und nicht eben, der westdeutschen Seite übertrieben viel zu helfen.

Nach der Amtszeit als Bürgermeister war Reinefarth wieder als Rechtsanwalt tätig, wurde aber nicht mehr als Notar zugelassen.

Wir sprechen von der ersten Hälfte der 70er Jahre. Das ist die Zeit der Kanzlerschaft von Willy Brandt und der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Die politische Grundstimmung ist bereits ganz anders als noch in den 60er Jahren. Es wurde begründet, dass Reinefarth zwar freigesprochen wurde, aber dennoch eine historische Rolle spielte, für die er die Verantwortung übernehmen muss und deshalb nicht Notar werden kann. Dabei unterschied man zwischen der Rolle als Rechtsanwalt und als Notar, weil man als Notar nicht in einem freien Beruf arbeitet, sondern auch staatshoheitliche Rechte ausübt.

Seine Rentenansprüche konnte aber Reinefarth behalten.

Ja, wobei die Rente vor allem die des Bürgermeisters war. Reinefarths militärische Laufbahn verlief regulär nur bis zum Rang eines Leutnants. Die Rente als Leutnant war relativ gering, aber als Bürgermeister und als Rechtsanwalt stand er finanziell sehr gut da.

Ihr Buch trug dazu bei, dass an der Wand des Rathauses in Westerland auf Sylt vor drei Jahren eine Gedenktafel mit den Worten „Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern und hoffen auf Versöhnung“ enthüllt wurde. Für die größten deutschen Medien war das kein kontroverses Thema. Anders wurde das von der lokalen Bevölkerung wahrgenommen.

Auf lokaler Ebene wurde ein Arbeitskreis gegründet, der sich 2013 und in der ersten Jahreshälfte 2014 damit auseinandersetzte, was mit der Erinnerung an Heinz Reinefarth zu tun sei. Die Publikation der deutschsprachigen Ausgabe meines Buches stand auf April 2014 in Aussicht und am 1. August 2014 jährte sich zum 70. Mal der Ausbruch des Warschauer Aufstandes. Ich fragte die Gemeinde an, ob sie das Buch teilweise finanzieren würde. Sie sagten zu, aber die Frage der Erinnerung blieb offen. Aus zweiter Hand weiß ich, dass es hinter den Kulissen eine sehr emotionale Diskussion gewesen sei. Breite Kreise auf der Mitte-Rechts-Seite waren nicht unbedingt dafür, diese Mahntafel am Rathaus zu platzieren. Es war zunächst die Rede davon, auf einem Friedhof in der Nähe von Westerland einen Gedenkstein zu enthüllen. Auf dem Friedhof sind ja polnische Zwangsarbeiter begraben, aber es wäre ein Ort gewesen, wo kein Mensch vorbeigelaufen wäre. Nach langem Hin und Her ist man übereingekommen, diese Mahntafel zu platzieren. Dann war noch die Frage, ob man den Namen Reinefarth erwähnt oder ob man nur eine Mahntafel für die Opfer des Warschauer Aufstandes macht. Die Opinion Leaders setzten sich durch und erklärten, man könne Reinefarth nicht ausklammern und man müsse wissen, was die Medien darüber berichten würden. „Steht der Name Reinefarth nicht auf der Mahntafel, kommt es zum Skandal,“ wurde betont.

Wie wurde Ihr Buch in Deutschland aufgenommen?

In der Öffentlichkeit und in den Medien erhielt ich fast nur positive Reaktionen. Auf der Insel Sylt bekam ich schon mit, dass es auch kritische Meinungen gab. Manche Leute waren der Auffassung, das sei schon lange vorbei und ich sei im Prinzip nicht berechtigt, über Reinefarth zu urteilen, weil ich ihn gar nicht gekannt hätte. Im öffentlichen Diskurs war jedoch die Reaktion sehr positiv. Es wurde auch gesagt: Wir finden es sehr interessant, dass jemand aus der Schweiz dieses Buch geschrieben hat.

Verfolgte man auch in der Schweiz diese Debatte mit Interesse?

Nein, eher wenig. Das ist nicht ein Schweizer Thema.

Wie stark ist das Thema Zweiter Weltkrieg in der Schweiz in Schulbüchern präsent? Worauf werden dabei Akzente gesetzt?

Generell ist der Zweite Weltkrieg von der europäischen Perspektive geprägt. Es ist meistens das Anschlusskapitel an das Thema Nationalsozialismus. Es wird in Schulbüchern sicher nicht mehr die Kriegsgeschichte in den Vordergrund geschoben. Es sind vor allem der Holocaust und der Nationalsozialismus. Dann ist sicher auch, aber eher als Nebenaspekt, die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ein Thema. Seit den 90er Jahren wird diese Rolle viel kritischer beurteilt.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Schweiz?

Da kann ich gewissermaßen nur dem Mainstream nachsprechen. Seit den 1990er Jahren wird stärker hervorgehoben, dass die Schweiz moralische Schuld auf sich lud, dadurch dass sie nicht nur mit den Alliierten, sondern auch mit Nazi-Deutschland zusammenarbeitete, dass sie Flüchtlinge an der Grenze abwies. Auf der anderen Seite ist klar, dass es eine schwierige Zeit für die Schweiz war und man damals nicht wusste, was geschehen würde. Aber die Perspektive, dass die Schweiz sich heldenhaft verteidigte und eine positive Rolle spielte, ist schon aufgebrochen. Ende der 90er Jahre führte ein starker Druck aus dem Ausland – einerseits aus den Medien und andererseits von jüdischen Interessengruppen – dazu, dass in der Schweiz eine Historikerkommission eingesetzt wurde, die eine Gesamtdarstellung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg neugeschrieben hat, die viel kritischer war als das, was bisher Gewicht hatte. Manche sagen wiederum, das sei eigentlich zu kritisch.

Bei Ihrem Besuch in Warschau im August 2014 begegneten Ihnen Leute, die das Massaker von Wola überlebt hatten.

Sie fanden das Buch, das ich schrieb, sehr wichtig. Persönliche Begegnungen mit Überlebenden sind natürlich eindrucksvoll und für mich auch sehr berührend.

Wie kam es dazu, dass bei Ihnen, einem Schweizer Historiker, Interesse an einer deutsch-polnischen Geschichte geweckt wurde?

Meine Masterarbeit ist dem militärischen Endkampf um Berlin gewidmet. Bei diesem Thema tauchte Heinz Reinefarth, damals Kommandant der Festung in Küstrin, am Rand auf. Als ich nach einigen Jahren mit der Dissertation begann, setzte ich mich mit der Täterforschung auseinander und es war meine Absicht, zu diesem Thema zu schreiben. Irgendwann kam mir da Reinefarth wieder in den Sinn. Ich realisierte, dass es zu ihm, obwohl seine Karriere so außergewöhnlich war, keine wissenschaftliche Arbeit gibt. Dieser Umstand faszinierte mich sehr und ich begann, daran zu arbeiten. Dann war ich drin, immer mehr fasziniert von seiner Geschichte. Ich ging dann ins Archiv nach Schleswig-Holstein, wo die Akten zu seinem Ermittlungsverfahren lagen. Dort wurde dann aufgrund der Quellenlage für mich klar, dass der Schwerpunkt meiner Arbeit die juristische Aufarbeitung des Warschauer Aufstands anhand der Person von Heinz Reinefarth sein wird. Mein Buch ist somit keine klassische Biographie. Reinefarth wurde für mich Anlass zu Überlegungen einer breiteren Natur.

Auf welche Quellen stützt sich Ihr Buch?

Das Landesarchiv Schleswig-Holstein in der Stadt Schleswig war für mich der mit Abstand wichtigste Quellenfundus. Dann auch Unterlagen aus Westerland, aber nicht so stark. Da nahm ich vor allem Einsicht in lokale Zeitungen aus den 50er Jahren, um Reinefarths Karriere in dieser Zeit nachzuzeichnen. Amtliche Protokolle von Lokalpolitik in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren sind sehr mager. In den lokalen Zeitungen aus dieser Zeit sind aber sehr farbige Berichte zu finden, welche die damalige Stimmungslage, die politischen Entscheide und die verschiedenen Persönlichkeiten zeigen, die wichtig um Reinefarth herum waren.

Ein schwedischer Autor, Niclas Sennerteg, hat vor mehr als 10 Jahren ein Buch zum Thema Reinefarth veröffentlicht (2003, polnische Ausgabe 2009 unter dem Titel: Kat Warszawy). Kann man es mit Ihrem Werk vergleichen?

Der Vorzug des Buches von Sennerteg ist, dass der Autor es schaffte, mit der Familie Reinefarth in Kontakt zu treten. Es ist eine wichtige Quelle, um das Familienleben von Heinz Reinefarth auszuleuchten: Die 30er Jahre in Cottbus, als er ein junger Anwalt war, aber auch die Zeit nach 1945, als die Familie flüchtete und sich dann auf der Insel Sylt niederließ. Das wird dort relativ detailliert geschildert, das hätte ich mit meinen Quellen nicht herausfinden können. Das Buch von Sennerteg ist aber kein wissenschaftliches Werk. Es zeigt eine Perspektive, die von den Äußerungen der Familie von Reinefarth geprägt ist. Diesem Narrativ zufolge erlitt Reinefarth ein tragisches Schicksal und wurde ungerecht behandelt. In dieser Hinsicht ist das Buch problematisch.

Auch Ihrerseits gab es Versuche, mit der Familie Kontakt aufzunehmen. Wie sind diese Bemühungen gelaufen?

Es war recht eigenartig. Über Internet fand ich eine Telefonnummer von einem Enkel von Heinz Reinefarth heraus. Er ist heute etwa 50 Jahre alt. Ich schrieb ihn per E-Mail an und wir telefonierten. Wir verabredeten uns für ein Interview. Es kam nicht zu Stande, weil mein Zug ausfiel. Ich rief dann an und entschuldigte mich. Der Enkel von Reinefarth sagte: „Kein Problem, wir verabreden uns für ein anderes Mal.“ Später behauptete er jedoch, er habe gerade keine Zeit, und irgendwann hatte er an einem Treffen überhaupt kein Interesse mehr.

Gab es Ihrerseits Versuche, andere Familienmitglieder zu erreichen?

Darauf verzichtete ich dann. Ich denke, wenn der Enkel seine Meinung änderte, da muss sich die Familie verständigt haben. In dieser Situation wäre es wahrscheinlich sinnlos gewesen, andere Angehörige anzugehen.

Hat sich die Familie von Heinz Reinefarth in den letzten Jahren überhaupt öffentlich geäußert?

Öffentlich nicht. Ich weiß aber, dass Familienmitglieder eingeladen wurden, an einer Sitzung des von mir erwähnten Arbeitskreises in Westerland teilzunehmen. Sie sprachen sich stark dagegen aus, dass der Name Heinz Reinefarth auf der Mahntafel genannt wird, konnten sich aber nicht durchsetzen.

Das Gespräch erschien ursprünglich in der Zeitschrift „Biuletyn IPN", Heft 7–8/2017

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Philipp Marti (geb. 1979) studierte Geschichte, Sportwissenschaft und Soziologie an der Universität Bern. 2013 promovierte er zum „Fall Heinz Reinefarth“. Er ist an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und als Lehrer am Gymnasium Burgdorf in der Schweiz beruflich tätig.

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